Merkwürdige Frittenlosigkeit

31. August 2013

 

Glücklich landete ich nach langer Vorfreude und mit großen Erwartungen (die dennoch übertroffen wurden, doch das ist eine andere Erzählung) bei einem stimmungsvollen internationalen Festival in der ungarischen Puszta und genoss Musik und Tanz, allerlei Kulturelles und das bunte Leben und Treiben schlechthin. Essen und Trinken sind natürlich ein wesentlich Bestandteil einer solchen Megaparty. Mehr als ein Dutzend Lokale von riesigen Restaurants bis zu winzigen Kiosken sorgten fürs leibliche Wohl der Besucher.

 

Am dritten – oder war es der vierte? – Festivaltag hatte ich von allerlei wohlschmeckender Rohkost und schaurigen grünen Smoothies und Ausgleich dazu verschaffenden Ham und Eggs und flaumigen Schinkenomeletts bis zu Hendlbraten allerlei durchgekostet, diese urleckeren Zitronen-Crêpes beispielsweise, Tomatensuppe, goldgelbe Pommes mit Ketchup, Gazpacho, aromatischer Salatmix mit Kürbiskernöl…

 

Ein extrem unscheinbarer Stand in der Händlerstraße, der griechische Spezialitäten offerierte, weckte meine Aufmerksamkeit. Sollte ich es wagen?

 

In der spärlich ausgestatteten Bude gab es nur eine große Vitrine mit kalten Vorspeisen – gefüllte Weinblätter und Saucenartiges, bei denen es sich um beliebte Gerichte wie Tsatsiki, Skordalia und Hummus handeln konnte. Auf der Vitrine waren große Platten mit allerlei undefinierbarem Blätterteig-Gebäck aufgestellt. Kochstellen waren auf den ersten Blick nicht zu sehen.

 

Unschlüssig standen zwei hagere Männer hinter den Behältnissen. Ein wenig suspekt, das Ganze. Aber Erinnerungen an griechische Gaumenfreuden waren geweckt. Ich fühlte mich ausreichend risikofreudig.

 

An der Wand des Ladens entdeckte ich ein Schild: “Greek Sushi – 5 Euro” mit Inhaltsangabe (alles auf Englisch, der Brückensprache bei diesem Event). Von gefüllten Weinblättern (hihi, aha, witziger Vergleich mit “real” Sushi!), diverse Saucen bzw. Aufstriche und… Pommes frites, wobei die englische Titulierung der in Belgien ersonnenen Goldstäbchen aus der edlen Erdfrucht fälschlich “French fries” lautet und natürlich auch auf dem schlichten Täfelchen zur Anwendung kam.

 

Merkwürdig! Immer wieder erstaunlich, wie sich Bezeichnungen, auch wenn längst als Irrtum entlarvt, behaupten.

 

Na ja, bei uns im deutschen Sprachraum sind’s, wenn auch eine französische Wortschöpfung, wörtlich genommen gegrillte Äpfel, “de terre” wissen wir, doch wenn’s einer nicht wüsste, wären es KEINE Apfel-Fritten. Sei’s drum, darum geht’s hier auch gar nicht. Was kümmerten mich mit meinem nach Leckereien heischenden Emotionalkörper, verbale Ungenauigkeiten oder Auslassungen.

 

Iiiiihhh, dachte ich mir nämlich schlicht und einfach, so ein Vorspeisenteller wäre lecker, ABER mit Pommes – unvorstellbar! Mich schüttelte es beim Gedanken. Handelte es sich um eine neuen verrückten Trend in Griechenland, um eine pointierte kulinarische Entsprechung der gegenwärtigen unseligen EU-Wirtschafts-Verschränkungen? Nichts gegen Pommes – siehe oben, sie stehen durchaus gelegentlich und unterwegs auf meinem Speisezettel. Oder, überlegte ich blitzschnell, ist es nichts als eine Multikulti-Geschmacksverwirrung, wie das manchmal auf niedrigem Küchenniveau vorkommt? Wollte man mit Kartoffeln das Gericht “strecken”, dass es ergiebiger wirkt oder meinte man es gut, wollte den hungrigen Festivalmäulern etwas Warmes verpassen? Lag die Vorliebe der Köche bei Erdäpfelkost statt beim traditionellen Weißbrot? Was immer das Motiv sein mochte – auf einem griechischen Vorspeisenteller haben sie einfach nichts verloren!

 

Noch war Zeit zu fliehen… aber meine Intuition versteckte sich und ließ mich rätseln.

 

Ratlos stand ich ein Weilchen da. Schließlich raffte ich mich auf und orderte, etwas energieschwach durch viel Erleben und viel Sommerhitze, einen Teller “Greek Sushi, but without French Fries”. Erstaunt und schulterzuckend guckten mich die beiden schlaksigen Männer an. Ich zeigte auf die diversen Boxen. Pommes frites waren nicht zu sehen, also konnte ich nicht auf sie zeigen. “No French fries – no Pommes frites!” deklamierte ich abermals erhobenen Hauptes, deutete auf einige Speisen, die ich auf meinem Teller wünschte. Verwunderung.

 

Mittlerweile wurden länger wartende Kunden bedient, erhielten etwas Blätterteigiges.

 

Wie aus dem Nichts tauchte ein etwas kräftigerer Gentleman um die Fünfzig auf. Auf sein Geheiß wurde ein Teller mit einer Riesenportion Aufstrichen gefüllt, ohne Pommes, aber auch ohne Gebäck.

 

Der kräftigere Herr reagierte auf meinen verwirrten Blick und meine frustrierte Entschlossenheit. “Not for you, you are next!” – Aha, dachte ich mir. Da hat’s wer vor mir auch ohne Pommes frites geschafft.

 

Temperamentvoll gestikulierend, theatralisch auf die Infotafel über unseren Häuptern hinweisend, wiederholte ich meine Bestellung von “Greek Sushi, but no French fries”.

 

Freundlich breit grinsend, erklärte mir der Vorspeisenvertilger in gut verständlichem Englisch: “I am the boss! They are my employees. They are Hungarians. They cannot express themselves, sorry. There are no French fries!”

 

Ich glaubte, im falschen Film gelandet zu sein! Da setzte ich mich die ganze Zeit gegen ungewollte Fritten zur Wehr, weil laut gedruckter Info Fritten im Gericht inkludiert sind – und es erscheint der Geschäftsinhaber und erklärt: “Fritten hat’s hier nie gegeben.”

 

Warum das Schild? Wieso streichen sie es nicht weg? Merkwürdig, unlogisch, völlig irrational!

 

“Die zwei sind Ungarn”, verkündete er erneut selbstbewusst, als wäre damit alles erklärt. “Sie verstehen nichts.” Aha. Äußerst interessant! Na, er sah auch nicht wie ein Grieche aus. Ich wollte mich nur noch aus der Affäre ziehen und hatte nicht mehr den Mumm, ihn nach seiner Herkunft zu fragen. Wer weiß, vielleicht hätte ich mir damit der letzten Faser einer Chance, zur Abwechslung hellenische Geschmäcker bei diesem Fest genießen zu dürfen, beraubt.

 

Wie grotesk, beharrlich zu verlangen, dass man etwas nicht bekommen möchte, wenn sich herausstellt, dass man es ohnehin niemals bekommen hätte.

 

Ich erkannte jäh und hilflos, dass ich mit meinem Latein zu Ende war. Nicht nur seine Angestellten verstanden nichts. Ich verstand auch nichts und war verwirrt.

 

Demütig entrichtete ich meinen Obolus und nahm ich meinen Greek Sushi-Teller in Empfang – ohne Sushi, ohne Pommes und – die nächste Verblüffung – ohne einen Bissen Brot. Auch ohne Besteck.

 

Ohne Adjutanten, der mir argumentativ beistehen würde, in einer reichlich verfahrenen Situation, konnte ich mich nur trollen, mit meinem mühsam erworbenen Pappteller mit vielen gefüllten Weinblättern, Oliven und viererlei breiartigen Speisen in verschiedenen Farben. Die Weinblätter-Röllchen waren recht zerbrechlich, aber irgendwie gelang es mir, sie als Löffel zu verwenden. Irgendwann waren sie verbraucht, dann taten’s die Oliven, und schließlich mussten die Finger herhalten.

 

Vielleicht hätte es auch Besteck gegeben? Zu sehen war keins gewesen.

 

Mitten im jahrmarktähnlichen Treiben in der heißen Mittagszeit kämpfte ich mich in einem schattigeren Winkel durch die kalten Breie. Man wird im Lauf des Lebens so herrlich ungeniert!

 

Das Zeugs auf meinem Teller schmeckte, den Umständen nach, erstaunlich gut. Für einen einmaligen Genuss zufriedenstellend.

 

Doch jedes Mal, wenn ich mich auf dem Weg zwischen Hauptkreuzung und Hauptbühne befand und dieses Lokal passieren musste, schlug ich einen leichten Bogen herum. Es war mir irgendwie nicht geheuer.

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